Nr. 183, September 2007
„Vergangenheitsbewältigung“ ist eines der deutschesten Wörter, die man sich vorstellen kann, ein Wort, dem die Vergeblichkeit des damit ausgedrückten Unterfangens schon eingeschrieben zu sein scheint. Im Europa von heute müssen sich viele Gesellschaften dieser Sisyphusarbeit des Erinnerns stellen – oder des Vergessens. Welche Rolle spielt dabei die Literatur? Ungarische und deutsche Autoren stellen ihre Beiträge zum „Kreativen Vergessen“ vor: Zsófia Balla, Marcel Beyer, Julia Franck, László Garaczi, Endre Kukorelly, Katja Lange-Müller, Thomas Lehr, László Márton, Terézia Mora, Gabor Németh sowie Lajos Parti Nagy.
Außerdem:
- In der neuen Abteilung „Fußnoten“ beschäftigt sich Florian Berg mit den Spuren von Descartes im Werk von Durs Grünbein.
- Neue Prosagedichte von Thomas Krüger.
- Auf Tritt Die Poesie: Michael Braun stellt die Lyrikerin Nora Bossong vor.
- Zu Gast in Berlin ist der slowenische Autor Ale¨ ¦teger, die Einführung zu seiner neuen Prosa schrieb Matthias Göritz.
Editorial
Eines der deutschesten Wörter, die man sich vorstellen kann, ist das Wortungetüm von der Vergangenheitsbewältigung. Es scheint, als wäre diesem Wort schon die Vergeblichkeit des Unterfangens eingeschrieben, die mit dem Versuch die Vergangenheit bewältigen zu können, einhergehen muss. Und trotzdem: Wie einst Sisyphus müssen sich Gesellschaften immer wieder dieser Aufgabe stellen, gerade wenn sie Epochen des Totalitären hinter sich gebracht haben. Die ungarische, vor allem aber die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet immensen Stoff, der aufgearbeitet werden kann. Welche Rolle dabei der Literatur beziehungsweise den Autoren zufällt, war der Ausgangspunkt eines ungarisch-deutschen Autorentreffens, das am 28. und 29. März 2007 im Literarischen Colloquium Berlin über die Bühne ging. Unter dem Titel „Kreatives Vergessen“ versammelten sich, moderiert von György Dalos und Marius Meller, zwölf Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Ungarn, Österreich und Deutschland. Wir haben Zsófia Balla, László Garaczi, Endre Kukorelly, László Márton, Gábor Németh, Lajos Parti Nagy, Marcel Beyer, Terézia Mora, Robert Schindel, Thomas Lehr, Julia Franck und Katja Lange-Müller gebeten, einen Text zum Thema „Kreatives Vergessen“ zu verfassen. Die Form haben wir dabei bewusst offen gelassen. Und so kann man nun in diesem Heft Essays, Gedichte und Erzählungen zum Thema lesen. Wir drucken alle Beiträge außer Robert Schindels schon veröffentlichten Text „Mein Wien“. „Kreatives Vergessen“ war eine Gemeinschaftsveranstaltung des ungarischen Schriftstellerverbandes Szepirok Tarsasaga und des LCB und fand im Rahmen von „Bipolar deutsch-ungarische Kulturprojekte“ statt. Bipolar war ein Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes. Für die Förderung sei hier gedankt. Auf Ungarisch liegen die Texte in der Budapester Ausgabe der Zeitschrift Lettre vor.
In unserer Rubrik „Auf Tritt Die Poesie“ stellt Michael Braun die Berliner Lyrikerin Nora Bossong vor. Wir präsentieren Prosagedichte von Thomas Krüger, und in „Zu Gast in Berlin“ drucken wir einen Text des slowenischen Dichters und Weltbürgers Ale¨ ¦teger, versehen mit einer Einleitung von Matthias Göritz. Außerdem beginnen wir in diesem Heft mit einer weiteren, unregelmäßig erscheinenden Abteilung, die wir mit „Fußnoten“ überschreiben. Hier drucken wir literaturwissenschaftliche Aufsätze zu Gegenwartsautoren. Wir beginnen mit einem Aufsatz des Berliner Germanisten Florian Berg über Descartes bei Durs Grünbein.
Inhalt
Auf Tritt Die Poesie | ||
Michael Braun |
Überläufer ins Unheimliche | 243 |
Nora Bossong | Gedichte | 245 |
Nora Bossong | Namen | 251 |
Kreatives Vergessen | ||
Zsófia Balla | Die jüdische Kantine | 253 |
Zsófia Balla | Gedichte | 258 |
Marcel Beyer | Vergessen machen, Proust | 269 |
Julia Franck | Die Reise von Stettin | 275 |
László Garaczi | himmel | 289 |
Endre Kukorelly | Auslöschung | 297 |
Katja Lange-Müller | Zwischen den Polen | 304 |
Katja Lange-Müller | Schweineladen oder Blaues Heft Nr. 5 | 311 |
Thomas Lehr | Zur Erfindung der Erinnerung | 314 |
László Márton | Vergiss nicht, was du versprochen hast! | 325 |
Terézia Mora | Das Kreter-Spiel | 333 |
Gabor Németh | Fern, so fern ist mir die Heimat | 344 |
Lajos Parti Nagy | Vergessensspiel | 355 |
Fußnoten | ||
Florian Berg | Die Kunst im Zeitalter der Wissenschaft | 364 |
Thomas Krüger | Prosagedichte | 382 |
Zu Gast in Berlin | ||
Matthias Göritz | Tacitus in Berlin | 388 |
Ale¨ ¦teger | Tacitus in der U-Bahn | 390 |